Was der neue ITER-Zeitplan bedeutet
Prof. Sibylle Günter, Wissenschaftliche Direktorin des IPP, kommentiert die Verzögerungen beim weltgrößten Fusionsprojekt
ITER-Generaldirektor Pietro Barabaschi hat heute die neue Baseline für das Projekt bekanntgegeben. Der neue Zeitplan sieht vor, dass die Forschungsaktivitäten an ITER im Jahr 2034 starten werden. Wichtig ist: Die neue Baseline ist nicht vergleichbar mit dem ursprünglichen Ablauf, der bereits 2025 ein erstes Plasma vorsah. In den vergangenen Jahren hatte sich bereits abgezeichnet, dass der bisherige Plan nicht zu halten sein würde. Als Ursachen für die Verzögerung nennt Pietro Barabaschi die COVID-19-Pandemie, Qualitätsprobleme und eine zu optimistische Planung für ein solches „First of a kind“-Projekt.
Wie ist die neue ITER-Baseline einzuordnen?
Prof. Dr. Sibylle Günter, Wissenschaftliche Direktorin des IPP:
„Die ITER-Führung hat einen Plan vorgelegt, der auf sehr intelligente Art mit den gravierenden Problemen umgeht. Sie hat die alten Termine nicht einfach verschoben, sondern Prioritäten neu gesetzt und Arbeitsschritte umorganisiert, was möglich ist, weil es ja nur bei einer kleinen Zahl von Komponenten Probleme gibt. Auch wurden die Planungen dem heutigen Wissensstand angepasst, sodass jetzt als Material für die erste Wand Wolfram und nicht Beryllium zum Einsatz kommt – das ist eine Entwicklung, die durch unsere Forschung an ASDEX Upgrade erst möglich wurde. ITER wird zudem eine deutlich stärkere Plasmaheizung bekommen als ursprünglich vorgesehen.
Das Ergebnis bedeutet natürlich trotzdem einen späteren Start der relevanten Forschungsarbeiten an ITER. Aber die Verzögerung ist geringer, als wir befürchten mussten. Was wichtig ist: ITER wird 2034 mit dem wissenschaftlichen Betrieb beginnen und 2036 an Deuterium-Deuterium-Plasmen und mit der vollen magnetischen Energie arbeiten können – letzteres ist gegenüber dem ursprünglichen Plan eine Verspätung um drei Jahre. Der Betrieb mit dem relevanten Fusionsbrennstoff Deuterium-Tritium soll 2039 beginnen. Das ist eine Verspätung von vier Jahren.
Dass sich der Start der Forschungsaktivitäten an ITER verzögert, ist ein negatives Signal – aber für uns Forschende noch am leichtesten verkraftbar. Die ursprünglich für das Jahr 2025 projektierte ITER-Anlage wäre eine sehr abgespeckte Version gewesen, die ohnehin erst in den 2030er Jahren ihre volle Ausbaustufe erreicht hätte. Insofern wird es umso mehr unser Auftrag sein, mit den jetzt vorhandenen kleineren Experimentalanlagen wie ASDEX Upgrade aber auch dem europäisch-japanischen Gemeinschaftsexperiment JT-60SA den ITER-Betrieb bestmöglich vorzubereiten.
Brauchen wir ITER überhaupt noch, nachdem es parallel kommerzielle und auch staatliche Projekte gibt, die nun möglicherweise schneller in Betrieb gehen? Ja, auf jeden Fall. Uns ist kein Projekt bekannt, das die Herausforderungen auf absehbare Zeit so umfassend untersuchen wird wie ITER. Es geht unter anderem um eine Leistungsbilanz von Q=10 und um Tritium-Breeding in der Wand. ITER hat zudem bis hierhin bereits Bahnbrechendes an Ingenieurleistungen erbracht, die für all die jetzt laufenden und noch kommenden Fusionsprojekte wichtig sein werden. Sie können von den Erfahrungen bei ITER profitieren. Damit das funktioniert, hat das ITER-Team in diesem Jahr begonnen, Daten und Erfahrungen intensiv mit Fusionsunternehmen zu teilen.
In den vergangenen Jahren hat es viele gute Nachrichten für die Kernfusion gegeben: Große Forschungserfolge in der Magnetfusion (zum Beispiel an JET und Wendelstein 7-X) und der Laserfusion (vor allem am NIF), neue staatliche Förderprogramme (unter anderem auch in Deutschland) sowie die Gründung von mehr als dreißig Fusionsunternehmen weltweit machten Schlagzeilen. Die heutige Mitteilung von ITER ist kein Grund zur Freude. Wir werden mit unseren Forschungen aber dazu beitragen, dass die Konsequenzen dieser Verzögerung so gering wie möglich bleiben und rechnen dennoch weiter mit einer positiven Dynamik beim Thema Kernfusion. Wir beobachten global die Ausbildung von Fusions-Ökosystemen mit privaten und staatlichen Playern. Eine solche Entwicklung hätte noch vor wenigen Jahren wohl kaum jemand vorhergesagt.“