Kritische Anmerkungen zum aktuellen TAB-Bericht zur Kernfusion
Eine Studie im Auftrag des Deutschen Bundestags enthält irreführende und fehlerhafte Passagen. Wir korrigieren und ordnen Aussagen ein.
Am 9. Januar 2025 hat das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) eine „TA-Kompakt-Studie“ zum Thema Kernfusion veröffentlicht. Titel: „Auf dem Weg zu einem möglichen Kernfusionskraftwerk – Wissenslücken und Forschungsbedarfe aus Sicht der Technikfolgenabschätzung“.
Bei Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik (IPP) hat der TAB-Bericht Verwunderung ausgelöst, weil er Fehler, Ungenauigkeiten und Ungereimtheiten enthält. Wir möchten auf folgende Passagen hinweisen, die entweder fehlerhaft sind oder einen falschen Eindruck vermitteln können:
- Seite 15ff, Kasten 2.2: ‚PROTO ist ein auf DEMO folgender Kraftwerksprototyp…‘ heißt es dort. Später schreibt der Autor von den Schritten ITER – DEMO – PROTO.
Richtig ist: PROTO ist seit zwei Jahrzehnten kein Thema mehr. In der europäischen Roadmap stellt längst DEMO die letzte Stufe vor dem kommerziellen Kraftwerk dar und hat damit die Funktion von PROTO übernommen. Diese Anmerkung von uns wurde vor der Veröffentlichung an das Büro für Technikfolgen-Abschätzung übermittelt. Der Autor hat daraufhin lediglich eine Präzisierung in Fußnote 11 hinzugefügt. Im Haupttext bleibt der falsche Eindruck bestehen, ITER bräuchte zwei Folgekraftwerke, um zu einer kommerziellen Anlage zu gelangen. - Seite 26, 3.1.2: ‚Die bei der D-T Fusion entstehenden Neutronen tragen demgegenüber mehr als 100 Mio. Mal mehr Energie (14 MeV). Entsprechend größer ist die zerstörerische Wirkung auf Materialien. Diese wird üblicherweise in dpa (displacements per atom) angegeben, also in der Anzahl der Stöße, denen jedes Atom im Festkörperverbund ausgesetzt ist.‘
Dieser Vergleich ist falsch: Ein Spaltungsreaktor kann auch schnelle Neutronen haben, dann ist die Energie ebenfalls im MeV Bereich. Die dpa-Schädigung ist bei Spaltung ähnlich wie bei Fusion. - Seite 26, 3.1.2: ‚Bei DEMO ist über die Lebensdauer der Anlage von etwa 70 dpa auszugehen (…). Dies führt dazu, dass sich die Materialeigenschaften erheblich verändern können (Versprödung etc.).‘
Richtig ist: Die 70 dpa beziehen sich lediglich auf die Lebensdauer des Blankets (das regelmäßig ausgetauscht werden kann) und nicht auf die gesamte Anlage. Das Vakuumgefäß wird zum Beispiel lediglich ca. 3 dpa über die ganze DEMO-Lebensdauer abbekommen. - Seite 29, 3.1.3: Hier geht es um die mögliche Schädigung von Hochtemperatursupraleitern (HTS) durch Neutronen: ‚Es ist bekannt, dass diese bereits bei viel geringeren Strahlungsschäden (in der Größenordnung von weniger als 10 dpa) degradieren können, als im Plasma-nahen Bereich eines Kraftwerks über seine Betriebsdauer hinweg zu erwarten sind (in der Größenordnung von 100 dpa).‘
Richtig ist: Die angeführten 100 dpa beziehen sich auf die erste Wand. Die Spulen erfahren eine Belastung, die um das 100.000- bis 1.000.000-fache geringer ist. Die Blankets erfüllen hier auch die Aufgabe, die Spulen vor den Neutronen zu schützen. - Seite 28ff, 3.1.3: Bei der Diskussion der HTS-Technologie geht der Bericht mit keinem Wort auf die Fortschritte ein, die beim US-Start-up Commonwealth Fusion Systems und beim staatlichen chinesischen Projekt BEST (Burning Plasma Experimental Superconducting Tokamak) erzielt wurden. Die Verwendung von HTS in diesen beiden neuen Experimenten ist ein Garant für die entsprechende Technologieentwicklung.
- Seite 36, Kasten 3.5: ‚Beim europäisch-japanischen Forschungsprojekt JT-60 SA handelt es sich um den derzeit größten und fortschrittlichsten Tokamak, der weltweit in Betrieb ist (bis zur Inbetriebnahme von ITER). Im März 2021 trat beim Hochfahren ein Defekt an der elektrischen Isolation der Magnetspulen auf. (…) Ein ähnlicher Störfall, der im Fall des Betriebs mit Tritium allein mit robotischen Systemen behoben werden müsste, könnte leicht das kommerzielle Aus für ein Kraftwerk bedeuten.‘
Richtig ist: Es handelt sich hier nicht um einen Störfall, sondern schlicht um eine Fehlkonstruktion, die man nicht wiederholen wird. Die lange Reparaturdauer bei JT-60 SA ist dadurch bedingt, dass man umdesignen musste.
Hintergrund: Das IPP erhielt am 6. Dezember 2024 erstmals eine Vorabversion des TAB-Berichts – im Zusammenhang mit einer Medienanfrage des Science Media Center (SMC). Zu diesem Zeitpunkt war der Bericht bereits vom Bundestagsausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung abgenommen worden. Unsere Anmerkungen und Korrekturen dazu leitete das SMC an das Büro für Technikfolgenabschätzung weiter. Lediglich eine Textstelle korrigierte der Autor daraufhin. Bei einer weiteren fügte er eine Fußnote ein (siehe oben).
Einordnung von Institutsdirektorin Prof. Sibylle Günter
Das Science Media Center hat Prof. Dr. Sibylle Günter, Wissenschaftliche Direktorin des Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik, auch um einschätzende Stellungnahmen im Zusammenhang mit dem TAB-Bericht gebeten. Wir dokumentieren hier die Fragen des SMC und die Antworten von Prof. Günter:
Frage: Ab wann kann frühestens damit gerechnet werden, dass Fusionskraftwerke Nettoenergie ins Netz einspeisen? Wie lässt sich diese Zeitspanne abschätzen und wie groß sind die Unsicherheiten?
Prof: Günter: „Fusionsenergie soll laut Roadmap der Europäischen Union, die auch von unserem Institut mitentwickelt wurde, zu Beginn der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts verfügbar sein. Die Entwicklung basiert auf einem Stufenplan, bei dem zunächst kleinere Magnetfusions-Anlagen die materialtechnischen und physikalischen Grundlagen für größere Kraftwerke erforschen. Erreichte Meilensteine wie der Energierekord am europäischen Tokamak JET zeigen den Fortschritt, obwohl derzeit keine Magnetfusionsanlage eine positive Energiebilanz erreichen kann – dies ist jedoch so geplant. ITER wird die erste Anlage sein, die mehr Energie liefert, als Heizenergie zugeführt wurde, während ihr Nachfolger DEMO Strom für den Netzbetrieb erzeugen soll. Die Entwicklung eines Fusionskraftwerks ließe sich beschleunigen, indem wir mehr parallelisieren. Bei deutlich höherer Förderung und für die Fusion passenden Genehmigungsverfahren könnte ein erstes Kraftwerk bereits etwa 20 Jahre nach dem Start eines ambitionierten Programms ans Netz gehen.
Und noch eine Anmerkung zur auf Seite 38 im TAB-Bericht diskutierten Volumetric Neutron Source (VNS): Damit ist ein kleine Fusionsanlage gemeint, an der kraftwerksrelevante Komponenten und ihr Zusammenspiel getestet und weiterentwickelt werden können. Eine VNS, die parallel zur Realisierung von DEMO betrieben wird, kann sinnvoll sein. Wir diskutieren das Thema gerade. Würde allerdings zunächst eine VNS gebaut, bevor DEMO realisiert wird, könnte das die Nutzung der Kernfusion auf der europäischen Roadmap um etwa 30 Jahre verzögern.“
Frage: Laut TAB-Bericht sind Fusionskraftwerke nicht gut in ein von erneuerbaren Energien geprägtes Stromsystem integrierbar, da dafür schnell regelbare Kraftwerke mit niedrigen Investitionskosten gebraucht werden. Wasserstoffproduktion oder Wärme-Anwendungen könnten demnach passendere Einsatzmöglichkeiten sein. Inwiefern stimmen dem zu? Wo sehen Sie Potenziale für den Einsatz von Fusionskraftwerken?
Prof: Günter: „Fusionskraftwerke können Strom produzieren, aber auch Prozesswärme für die Industrie liefern und Energie für die Herstellung künstlicher Treibstoffe wie Wasserstoff bereitstellen. Darüber hinaus ist damit zum Beispiel auch denkbar, die Energie zu nutzen, um CO2 aus der Luft abzuscheiden und Meerwasserentsalzungsanlagen zu betreiben. Wir gehen davon aus, dass diese Kraftwerke eher im Dauerbetrieb laufen werden, also heutigen Grundlastkraftwerken vergleichbar sind.
Werden solche Kraftwerke in ein künftiges Energiesystem passen? Zur Beantwortung dieser Frage arbeiten wir mit auf diesem Gebiet kompetenten Wissenschaftlern zusammen, zum Beispiel mit dem Lehrstuhl für Erneuerbare und Nachhaltige Energiesysteme an der TU München. Ein Ergebnis der Untersuchungen: Fusionskraftwerke können in einem künftigen Strommarkt sehr gut und sinnvoll mit den Erneuerbaren zusammenspielen. Ihre Leistung ist bei Bedarf regelbar. (1) Wenn man davon ausgeht, dass Fusionskraftwerke sowohl bei Bedarf Strom zur Verfügung stellen und in anderen Zeiten chemische Energiespeicher wie Wasserstoff produzieren, passen sie auch gut in ein Energiesystem der Zukunft.
Außerdem kann man heute weder die Energiesituation Deutschlands noch die der Welt in der zweiten Jahrhunderthälfte seriös prognostizieren. Da geht es ja nicht nur um Stromerzeugung, sondern um den Primärenergiebedarf, der zurzeit in Deutschland zu drei Vierteln auf fossilen Quellen basiert und weltweit sogar zu einem noch größeren Anteil. Auch die Prognose für den Energiebedarf ist unsicher. Beispielsweise warnen Technologiekonzerne vor dem gigantischen Energiebedarf durch die Nutzung künstlicher Intelligenz. Und wie schnell energiepolitische Gewissheiten manchmal über den Haufen geworfen werden müssen, hat uns gerade der Ukraine-Krieg gezeigt.
Deshalb ist die Frage: Wollen wir jetzt in die Fusionsenergie investieren, damit sie uns angesichts der unsicheren Zukunft von Energiebedarf und -versorgung als verlässliche Energiequelle in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zur Verfügung steht?“
(1)
Larissa Breuning, Anđelka Kerekeš, Alexander von Müller, Julia Gawlick, Soner Candas, Hartmut Zohm, Thomas Hamacher:
Operational planning of magnetic confinement fusion power plants using a MIP unit-commitment model
In: Fusion Engineering and Design (submitted 2024) / 33rd Symposium on Fusion Technology (SOFT 2024)
Frage: Hochradioaktive Abfälle können bei Fusionskraftwerken laut TAB-Bericht vermutlich vermieden werden, das Volumen an schwächer strahlenden Abfällen sei jedoch größer als bei herkömmlichen Kernkraftwerken (S. 63). Inwiefern schätzen Sie den entstehenden Abfall von Fusionsreaktoren als relevant und problematisch ein?
Prof: Günter: „Die Strahlung von Fusionsabfällen nimmt deutlich schneller ab, als die von hochradioaktiven Abfällen aus Spaltungskraftwerken. Wissenschaftler forschen an Materialien für Wandkomponenten, welche die Aktivierung weiter reduzieren. Erforderlich sind Recycling-Technologien, durch die alle aktivierten Komponenten eines Fusionsreaktors nach einiger Zeit freigegeben oder in neuen Kraftwerken wiederverwendet werden können. Derzeit ist davon auszugehen, dass man mit dem Recycling per Fernhantierung (Remote Handling) bereits ein Jahr nach Abschaltung eines Fusionskraftwerks beginnen könnte. Anders als bei Kernspaltungsreaktoren sollte damit kein Endlager erforderlich sein.“
Frage: Der Bericht nennt Helium, Beryllium und Lithium als Beispiele für benötigte Ressourcen für die Fusionsenergie, bei denen es Engpässe geben könnte (S. 58). Wie schätzen Sie deren Rolle ein? Gibt es weitere Ressourcen, die bei einem möglichen breiten Einsatz von Fusionskraftwerken problematisch werden könnten?
Prof: Günter: „Beim Rohstoff Lithium sehen wir prinzipiell keinen Engpass. Fusionskraftwerke werden nur einen kleinen Anteil der weltweiten Förderung beanspruchen. Investitionen in die Technologie-Entwicklung für die großskalige Anreicherung von Lithium-6 aus natürlichem Lithium sind erforderlich.
Beryllium ist das derzeit bevorzugte Material für den Neutronenmultiplikator im Brutblanket. Sollte es langfristig in einer Vielzahl von Fusionskraftwerken eingesetzt werden, müssten verstärkt Recyclingmethoden genutzt werden. Denn während eines Jahres werden in einer Blanketkomponente nur etwa 0,2 Prozent des Berylliums verbraucht. (2) Die Fusionscommunity hat diese Problem aber bereits erkannt und arbeitet an alternativen Konzepten, welche Blei als Neutronenmulitplier auch in fester Form vorsehen (siehe z.B. (3)).
Helium soll als Kühlmittel im Brutblanket und in den Supraleitern eingesetzt werden. Für die ersten Jahrzehnte mit Fusionskraftwerken erwarten wir keinen Engpass. (4)
(2)
Bradshaw, A.; Hamacher, T.; Fischer, U. (2011):
Is nuclear fusion a sustainable energy form?
In: Fusion Engineering and Design 86
(3)
K. Jiang, Q. Wu, L. Chen, S. Liu (2023):
Conceptual design of solid-type PbxLiy eutectic alloy breeding blanket for CFETR
In: Nuclear Fusion 63.
(4)
Danilo Nicola Dongiovanni, Y. Melese, F. Gracceva, C. Bustreo, Alexander von Müller:
On the impact of nuclear fusion power plants deployment on selected critical materials consumption
In: Energy Strategy Reviews (submitted 2024)
Disclaimer: Prof. Dr. Klinger, Direktor am Max-Planck-Institut für Plasmaphysik in Greifswald, wird in dem TAB-Bericht als einer der zwölf Experten genannt, die dem Autor für Interviews zur Verfügung standen. Abgesehen von diesem Interview hat Prof. Klinger nicht an der Erstellung des Berichts mitgewirkt.