Warum künstliche Intelligenz in der Fusionsforschung an Bedeutung gewinnt
Software-Tools wie ChatGPT machten Machine Learning und KI in diesem Jahr weltweit populär. Am Max-Planck-Institut für Plasmaphysik (IPP) entwickeln Forschende schon länger erfolgreich solche Algorithmen für die Wissenschaft.
Fusionsreaktionen laufen in vielen Millionen Grad Celsius heißen Plasmen ab, also in Materiezuständen mit geladen Teilchen (Ionen und Elektronen). Auf dem Weg zu einem Fusionskraftwerk ist es von zentraler Bedeutung, bestimmte Plasmazustände gezielt erzeugen zu können. Ob das im Experiment gelingt, lässt sich immer nur durch indirekte Messungen feststellen – und das ist alles andere als trivial. Denn ein Plasma ist ein hochkomplexes, inhomogenes und sich ständig veränderndes Gebilde, das zudem in den wesentlichen Bereichen für das menschliche Auge nicht sichtbar ist. Deshalb sind Experimentalanlagen wie ASDEX Upgrade und Wendelstein 7-X von einer Armada aus Hightech-Messinstrumenten umgeben, die während jeder Sekunde einer Plasmaentladung mehrere Gigabyte an Messdaten erzeugen.
Um diese gewaltigen Datenmengen auswerten zu können, kommen immer häufiger Machine-Learning-Methoden (ML) zum Einsatz. Denn das ist ja gerade die Stärke von Künstlicher Intelligenz (KI): Füttert man sie mit genügend Trainingsdaten, kann sie Muster in gigantischen Datenmengen erkennen und daraus Gesetzmäßigkeiten ableiten.
„Wir haben in den vergangenen Jahren einiges an Kompetenz auf diesem Gebiet am IPP aufgebaut“, erklärt Arbeitsgruppenleiter Dr. Udo von Toussaint. „Und die Zahl der Forschenden am Institut, die KI-Algorithmen entwickeln, steigt weiter.“ Jüngstes Beispiel für die Erfolge des IPP: Als die Fachzeitschrift „Contributions to Plasma Physics“ im Juni ein Sonderheft „Machine learning methods in plasma physics“ mit wichtigen aktuellen Arbeiten zu diesem Thema veröffentlichte, stammten gleich drei von zwölf Artikeln vom IPP. Dr. von Toussaint gehörte zum Redaktionsteam der Ausgabe.
Grundlegende Messfehler finden und korrigieren
Eine dieser Arbeiten behandelt ein grundlegendes Problem der Experimentalphysik, das in der Plasmaphysik besonders häufig auftritt: Wie erkennt man „Ausreißer“ bei Messungen – also Messwerte, die man aussortieren muss, damit sie das Ergebnis nicht verfälschen. In Fusionsexperimenten treten sie zum Beispiel oft auf, weil die dabei freiwerdenden Neutronen ungewollt auf bildgebende Diagnostikinstrumente treffen und Ergebnisse verursachen, die mit dem eigentlich untersuchten physikalischen Phänomen nichts zu tun haben.
Die Doktorandin Katharina Rath (IPP, Ludwig-Maximilians-Universität München) entwickelte dafür im Team mit anderen Forschenden einen Algorithmus zur robusten Datenanalyse. Die Herausforderung: Bei einfachen Experimenten lassen sich Ausreißer meist mit bloßem Auge erkennen, weil sie nicht in die Reihe der Werte passen; in der Plasmaphysik entstehen aber vieldimensionale Datenwolken aus Messwerten, die sich einer einfachen Beurteilung entziehen. Auch klassische Trainingsstrategien beim Machine Learning haben Probleme beim Umgang mit Ausreißern. „Es ist die Stärke des IPP, hier Strategien zu entwickeln, die trotzdem funktionieren. Das ist bei dieser Arbeit mit Hilfe sogenannter Student-tProzesse gelungen“, sagt Udo von Toussaint. Mehr noch: Der Algorithmus soll künftig auch fehlende Messpunkte schätzen können. Im Extremfall könnte es sogar möglich sein, zum Beispiel bei einem temporären Ausfall eines der vielen Messgeräte, dessen fehlende Ergebnisse aus den Werten der anderen Diagnostiken zu interpolieren.
KI zum Steuern des Plasmazustands
Eine weitere wegweisende Arbeit im Bereich Machine Learning, die jetzt vom IPP und anderen Forschenden veröffentlicht wurde, beschäftigt sich damit, den Zustand des Plasmagleichgewichts bei Stellaratoren wie etwa Wendelstein 7-X live zu erkennen. In der Regel soll dieser Idealzustand des Plasmas erreicht und erhalten werden. „Weil wir das Plasma als Ganzes nicht sehen können, sind wir hier auf abgeleitete Messgrößen wie zum Beispiel Magnetfeldstärke, Leuchteffekte und Temperaturmessungen an der Wand des Gefäßes angewiesen“, erklärt Udo von Toussaint. „Dennoch ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass wir bei der Bestimmung der Plasmaform häufig um einige Zentimeter danebenliegen.“
Nur wenn man Position und Form des Plasmas bei Experimenten live bestimmen kann, lässt sich durch Nachregeln äußerer Parameter ein geeigneter Gleichgewichtszustand herstellen und halten. Für eine angepasste Regelung ist aber eine Abschätzung der Unsicherheit dieser Daten wichtig – ansonsten könnte die Regelung auf fehlerbehaftete Signale zu stark reagieren. Doktorand Robert Köberl (IPP, TUM, TU Graz) entwickelte dafür mit anderen Forschenden einen Algorithmus, der nicht nur den Plasmazustand (das MHD-Gleichgewicht) rekonstruieren kann sondern gleichzeitig, welcher Fehlerbereich sich aus den Messwerten ergibt. „Wir können noch nicht gleichzeitig schnell, robust und genau rechnen, weil das die Fähigkeiten heutiger Computer deutlich überfordern wurde“, sagt Dr. von Toussaint. „Aber die Berechnung des Fehlerbereichs kann bei der Experimentsteuerung eine wichtige Entscheidungsgrundlage liefern.“ Zeigt der Algorithmus eine hohe Abweichung vom Plasmagleichgewicht und einen kleinen Fehlerbereich an, so müsste die Experimentsteuerung nachjustieren. Bei einem großen Fehlerbereich würde sie dagegen den Messwert anzweifeln und nicht reagieren.
Die Physik und die KI: stärker als Team
Ein immer wichtiger werdendes Feld ist die Berücksichtigung von vorhandenen Randbedingungen beim Training und bei der Anwendung von Machine-Learning-Methoden. Insbesondere in der Plasmaphysik existiert ein umfangreiches Wissen über die erlaubten Zustände von Plasmen, da sie zum Beispiel der Energie- und der Impulserhaltung unterworfen sind. Für die grundlegenden Arbeiten auf diesem Gebiet wurde IPP-Direktor Prof. Eric Sonnendrücker jüngst der Dawson-Preis verliehen.
Allerdings ist es oft sehr schwierig diese vorhandenen Randbedingungen konsistent in die üblicherweise verwendeten KI/ML-Methoden zu integrieren. Hier konnten IPP-Wissenschaftler Dr. Tomasz Tyranowski und Dr. Michael Kraus die Langzeitstabilität von Plasmasimulationen für eines der grundlegenden Modellsysteme der Plasmaphysik signifikant verbessern (Dr. Tyranowski ist inzwischen einem Ruf an die Universität Twente gefolgt). Es geht um das Vlasov-Modell, bei dem die sogenannte symplektische Gleichungsstruktur jetzt korrekt in den KI-Algorithmen berücksichtigt wird.
„Diese Beispiele zeigen, dass sich Machine-Learning-Methoden oftmals perfekt eignen, um Probleme der Plasmaphysik zu lösen“, urteilt Udo von Toussaint. „Unsere Erkenntnisse können aber auch ganz anderen wissenschaftlichen Disziplinen helfen.“ Dass Lösungen aus der KI/ML-Forschung oft universell nutzbar sind, zeigte zuletzt die jährlich ausgerichtete MaxEnt-Konferenz (International Workshop on Bayesian Inference and Maximum Entropy Methods in Science and Engineering), die im Juli 2023 am IPP in Garching stattfand. In diesem Jahr waren Künstliche Intelligenz und Machine Learning ein großes Thema.
Auf der MaxEnt treffen sich Forschende, die probabilistische Modelle benutzen – also mathematische Modelle, die auf Zufallsvariablen und ihren Wahrscheinlichkeitsverteilungen beruhen –, um Probleme aus unterschiedlichsten Disziplinen zu lösen: Es geht um Material- und Ingenieurwissenschaften, um Erdbebenwahrscheinlichkeiten, Medizin und eben auch um Plasmaphysik. „Wir lernen dort alle voneinander“, sagt Udo von Toussaint. Und so kommt es, dass KI/ML-Algorithmen vom IPP zum Beispiel auch in den Geowissenschaften und der Meteorologie genutzt werden – oder umgekehrt.
Künstliche Intelligenz und Machine Learning
Unter KI versteht man meist die Fähigkeit eines Computers, selbstständig auf Input bzw. Informationen von außen zu reagieren und daraus zu lernen. Machine-Learning -Algorithmen (Deutsch: Maschinelles Lernen) sind ein wesentlicher Baustein von KI. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um Systeme, die mit Trainingsdaten gefüttert werden und daraus statistische Modelle entwickeln, die es ihnen ermöglichen Gesetzmäßigkeiten und Muster zu erkennen. Machine Learning umfasst dabei viele Methoden-Bereiche. Ihre prominentesten Vertreter sind künstliche neuronale Netze und stochastische Prozesse (wie etwa Gaußsche Prozesse). Das bekannte KI-Tool ChatGPT beruht auf neuronalen Netzen.
Frank Fleschner
Veröffentlichungen:
https://doi.org/10.1002/ctpp.202200046
Citations: 3